Gemeinschaftsantrag der Fraktion der GRÜNEN und weiterer Stadtratsfraktionen und -gruppen
Neuere Forschungen: Reissmüllers NS-Belastung ausgeprägter, als bisher bekannt
Die NS-Belastung von Wilhelm Reissmüller ist wesentlich ausgeprägter gewesen, als bisher bekannt war. Neuere Forschungen durch den Journalisten Thomas Schuler haben erst kürzlich gezeigt, dass sich Reissmüller schon 1933 dem Nationalsozialismus zuwandte. Die Auswertung von Archivunterlagen belegt den Aufstieg Reissmüllers in verschiedenen NS-Organisationen in erstaunlich jungen Lebensjahren. So wurde er bereits im Alter von 26 Jahren Betriebs- und Verlagsleiter des Donauboten, einer NS-Propagandazeitung in Ingolstadt. Seine Mitgliedschaften und seinen Aufstieg in der NS-Hierarchie versuchte er jedoch nach 1945 vehement zu verbergen. Bis zu seinem Tod konnte er weitgehend unbehelligt und geachtet in Ingolstadt leben, 1976 bekam er die Ehrenbürgerwürde der Stadt Ingolstadt verliehen.
Erkenntnisse zu Reissmüllers NS-Belastung erfordern zeitnahe Entscheidung
Die Ehrenbürgerwürde ist zwar mit dem Ableben Reissmüllers erloschen, jedoch ist eine politische Entscheidung der Aberkennung wichtig und auch überfällig, findet die Grünen-Stadträtin Agnes Krumwiede. Selbst als Autorin mit Schicksalen von NS-Verfolgten befasst, fordert sie nun rasche Konsequenzen aus den neuesten Recherchen ein: „Vor kurzem erschlossene Quellen haben die Lebenslügen von Dr. Wilhelm Reissmüller entlarvt. Wir wissen jetzt: Er war Mitglied von SA und SS, dem NS-Studentenbund sowie der NSDAP. Als Verlagsdirektor des „Donauboten“ ab 1936 hatte er bei dieser NS-Propagandazeitung redaktionellen Einfluss, darunter auch auf die Hetze gegen Jüdinnen und Juden, Kranke, Sinti und Roma und andere im Nationalsozialismus verfolgte Gruppen. Die neuen Erkenntnisse zu Reissmüllers NS-Belastung erfordern zeitnahen Handlungsbedarf.
Eine symbolische Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für Wilhelm Reissmüller ist überfällig. Denn: Wer die Täter ehrt, verhöhnt die Opfer!“
Symbolische Aberkennung der Ehrenbürgerwürde
Die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN, Barbara Leininger, betont die Wichtigkeit einer symbolischen Aberkennung allgemein und besonders für die heutige Ingolstädter Stadtgesellschaft: „Im Fall der Person Reissmüller wird deutlich, wie noch Jahrzehnte nach 1945 ehemalige Exponenten der NS-Diktatur gesellschaftlich höchstes Ansehen genossen, weil ihre NS-Vergangenheit von großen Teilen der Nachkriegsgesellschaft negiert, verdrängt oder gar entschuldigt wurde. Es ist Zeit, dass mit der symbolischen Aberkennung der Ehrenbürgerwürde auch die namentliche Präsenz Reissmüllers im gesellschaftlichen Leben unserer Stadt ein Ende hat.“
Weitere Informationen und Links :
Der Antrag im Wortlaut:
Stadt Ingolstadt
Herrn Oberbürgermeister
Dr. Christian Scharpf
Rathaus
85049 IngolstadtIngolstadt, 6. Dezember 2024
Öffentliche Distanzierung von Wilhelm Reissmüller – Konsequenzen aus den neuesten Erkenntnissen zu seiner NS-Belastung
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
wie der Journalist Thomas Schuler für einen Beitrag in der Reihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“, Band 17 (Hrsg. Dr. Wolfgang Proske) recherchieren konnte, ist die NS-Belastung Wilhelm Reissmüllers massiver als bisher bekannt: Seine Studienkarte und seine Promotionsakte (UAM, O-Npr 1936/1937 Reissmüller, Wilhelm) belegen Reissmüllers Eintritt beim NS-Studentenbund (NSDStB) im Mai 1933, im April desselben Jahres war er den Quellen zufolge bereits der Sturmabteilung (SA), im Oktober 1933 der Schutzstaffel (SS) beigetreten. Der renommierte Historiker Daniel Siemens, u.a. Autor des Standardwerkes „Sturmabteilung: Die Geschichte der SA“, kommentierte Reissmüllers selbst verfassten Lebenslauf und dessen frühen Beitritt zu NS-Organisationen mit: „Mehr Nazi geht nicht mit 22 Jahren.“ (Quelle: „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“, Band 17, Beitrag von Thomas Schuler, S. 287)
1935/36 war Reissmüller Gaupresseamtsleiter des NSDStB. 1937 wurde er Betriebsleiter und Verlagsleiter des „Donauboten“ – einer NS-Propagandazeitung, in welcher gleichermaßen wie im „Stürmer“ gegen Jüdinnen und Juden, so genannte „Erbkranke“, Sinti und Roma und alle weiteren im Nationalsozialismus verfolgten Gruppen auf menschenverachtende Weise gehetzt wurde. Eine redaktionelle Verantwortung beim „Donauboten“ leugnete Reissmüller nach 1945 vehement. Allerdings hatte er selbst 1936 gegenüber dem Promotionsausschuss angegeben, dort „redaktionell verantwortlich“ zu sein.
Bis zu seinem Ableben im Jahr 1993 gehörte Wilhelm Reissmüller zu den einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Stadt. Dazu passte auch Reissmüllers Engagement im sozialen und kulturellen Bereich durch Spenden und Stiftungen. Seine NS-Vergangenheit hat er zeitlebens nicht nur verschwiegen und geleugnet, er klagte sogar mehrfach gegen die Behauptung, er sei Mitglied der NSDAP gewesen, obwohl er selbst im Meldebogen seines Entnazifizierungsbogens angegeben hatte, ab 1937 Mitglied gewesen zu sein. Das Bundesverfassungsgericht beschloss schließlich 1987, die Beschwerde Reissmüllers nicht anzunehmen. Bereits 1985 hatte das Landgericht München geurteilt, dass er sich die Berichterstattung und somit den Vorwurf der Parteimitgliedschaft gefallen lassen müsse.
Die Recherchen von Thomas Schuler sorgten in den vergangenen Wochen für große Aufmerksamkeit. Der Donaukurier und die Süddeutsche Zeitung berichteten. Wie die Süddeutsche Zeitung zudem am 05.11.2024 bekannt gab, hat der Donaukurier bereits reagiert und das großformatige Porträt des ehemaligen langjährigen Herausgebers Wilhelm Reissmüller aus dem Flur der Redaktion in den Keller verbannt.
Sobald neue Erkenntnisse zu einer NS-Belastung von ehemals als Ehrenbürger ausgezeichneten Personen vorliegen, müssen zeitnah politische Konsequenzen erfolgen. Juristisch erlischt die Ehrenbürgerwürde mit dem Tod. Dennoch erscheinen die Namen von Ehrenbürgern einer Stadt auf Internetportalen oder in Publikationen. Dadurch gelten diese Persönlichkeiten in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor als dieser Ehrung würdig. Zumindest, solange keine öffentliche Distanzierung durch den Stadtrat vorgenommen und dies an entsprechenden Stellen gekennzeichnet wurde. Die symbolische Aberkennung einer Ehrenbürgerwürde hat außerdem einen hohen ethischen Wert: Mit einer faktenbasierten Neubewertung der NS-Belastung eines ehemaligen Ehrenbürgers zeigt eine Stadt, dass sie das viel beschworene „Nie wieder!“ ernst nimmt.
Wie nichtstädtische betroffene Institutionen und Vereine in Ingolstadt mit der jetzt zweifelsfrei dokumentierten NS-Vergangenheit des Namensgebers etwa für Preise oder Teilbereiche ihrer Einrichtungen umgehen, liegt nicht unmittelbar in politischer Hand und ist nicht Aufgabe des Stadtrats. Dennoch begreifen wir die Umbenennung in diesen Bereichen als eine stadtgesellschaftliche Aufgabe, die von den politischen Gremien der Stadt Unterstützung erwarten kann.
Wir beantragen daher:
- Die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für Dr. Wilhelm Reissmüller.
- Die Umbenennung der „Stiftung Dr. Reissmüller – Städtepartnerschaft Ingolstadt-Carrara“ bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Stiftungsarbeit und des Stiftungszwecks.
- Die kulturellen und karitativen Vereine und Einrichtungen, die in irgendeiner Weise eine Verbindung zur Person Dr. Reissmüller haben, werden aktiv von der Stadt in stiftungsrechtlichen Fragen und bei einer notwendig werdenden Umbenennung begleitet und unterstützt.
Begründung
zu 1: Gemäß einem Beschluss des Ingolstädter Stadtrates wurde vor kurzem das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) für ein Gutachten zu „Ingolstadt im Nationalsozialismus“ beauftragt. Dieses Gutachten geht weit über die Erforschung der singulären Rolle einzelner Akteure wie Wilhelm Reissmüller hinaus. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist ein Prozess, der nicht synchronisiert werden kann. Mit politischen Entscheidungen wie einer Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für Wilhelm Reissmüller abzuwarten, bis in mindestens drei Jahren die Ergebnisse des Gutachtens vorliegen, lässt sich nicht rechtfertigen: Die Faktenlage zur NS-Belastung von Wilhelm Reissmüller ist mittlerweile eindeutig und erfordert zeitnahes Handeln.
Mindestens ebenso wichtig wie der formale Akt der Aberkennung ist der weitere Diskurs über regionale Täterschaft und die öffentliche Auseinandersetzung mit den Biografien von Ingolstädter NS-Opfern und NS-Tätern sowie Mitverantwortlichen. Deshalb ist das Gutachten durch das IfZ nach wie vor und unabhängig von einer möglichen politischen Entscheidung zur Aberkennung von Ehrenbürgerwürden elementar wichtig für unsere Stadt.
Zu 2: Angesichts der NS-Vergangenheit von Wilhelm Reissmüller ist es nicht länger vertretbar, dass die Stiftung „Dr. Reissmüller“ zugunsten der partnerschaftlichen Verbindung der Städte Ingolstadt und Carrara weiterhin seinen Namen trägt. Dies kann insbesondere den Studierenden der Bildenden Künste in München und der Accademia di Belle Arti in Carrara nicht länger zugemutet werden, die sich möglicherweise ohne Kenntnis der NS-Belastung des Namensgebers für ein Stipendium bewerben.
Zu 3: Die Tatsache, dass bis heute noch neben der Stiftung (s.o.) eine Wohnstätte in einer sozialen Einrichtung und ein Musikpreis den Namen Reissmüller tragen bzw. mit seinem Namen verbunden sind, zeigt, dass es mit der symbolischen Aberkennung der Ehrenbürgerwürde nicht getan ist. Im Fall der Person Reissmüller wird deutlich, wie noch Jahrzehnte nach 1945 ehemalige Exponenten der NS-Diktatur gesellschaftlich höchstes Ansehen genossen, weil ihre Vergangenheit als Täter, Helfer und Trittbrettfahrer von großen Teilen der Nachkriegsgesellschaft negiert, verdrängt oder gar entschuldigt wurde.
Es ist Zeit, dass mit der symbolischen Aberkennung der Ehrenbürgerwürde auch die namentliche Präsenz Reissmüllers im gesellschaftlichen Leben unserer Stadt ein Ende hat.
Mit freundlichen Grüßen
gez. gez.
Barbara Leininger, Christian Höbusch Agnes Krumwiede
Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Stadträtin BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
gez. gez.
Christian De Lapuente Christian Lange
Fraktionsvorsitzender SPD Fraktionsvorsitzender UWG
gez. gez.
Raimund Köstler Roland Meier
Gruppensprecher ÖDP Gruppensprecher DIE LINKE
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